JOURNAL

CAMP KANN ALLES SEIN!


INTERVIEW & TEXT BY BERIT WARTA

„CAMP ist limitless, nicht kategorisierbar. Bei CAMP findet sich keine klare Form. Aber, vielleicht soll es ja auch genauso sein? CAMP spornt dich dazu an, dich jeden Tag neu zu interpretieren!“

Sena Isikal

Schon einmal versucht eine Definition für CAMP zu finden? Falls ja, dann ist das ungefähr so, als würde man versuchen den Geruch von Regen sichtbar zu machen. Ihm eine Farbe zu geben. Seinen Aggregatzustand zu ändern. Man müsste das unmögliche möglich, und das unsichtbare sichtbar machen. Und so ist das auch bei CAMP. CAMP bezieht eine Form, geht durch die Form und verlässt die Form wieder. Und zwar jede Form. So würde es Sena Isikal uns zumindest erklären.

Sena ist eine junge Designerin, die bereits Erfahrungen gesammelt hat von denen jeder Modestudent nur träumen kann. Sie hat bereits in London gelebt, für ihre Abschlusskollektion das Label liftoff ins Leben gerufen und sich zuletzt im Big Apple, New York niedergelassen. Und weil New York an sich noch nicht spannend genug ist, setzte Sena noch einen oben drauf, und begann für das Modehaus Thom Browne zu arbeiten. Bei Thom Browne handelt es sich um das Label, welches die Queen of Rap – Cardi B – 2019 in der massiv, gigantischen CAMP-Robe inszenierte. Bei der Entwicklung des Kleides war Sena hautnah dabei. Von der Recherche, bis zur Fertigstellung. Das macht sie damit zu einer Art Expertin, wenn es darum geht, CAMP besser zu verstehen. Für Style & the Gang haben wir mit Sena gesprochen und festgestellt: CAMP kann alles sein. Bleibt undefinierbar. Und das ist auch gut so!

Deine ultimative CAMP Farbe?

Rosa, Pink, Rottöne.

Bei CAMP darf man es also richtig knallen lassen?

Ganz genau!

Als Designerin – was ist Dein ultimatives CAMP Fabric?

Auf jeden Fall ein Mischgewebe – aus Seide und Wolle. Und wenn dann noch Special-Effects dazu kommen sollen – Federn! Das ist für mich typisch CAMP! Liegt wahrscheinlich auch daran, dass ich von meiner Arbeit für Thom Browne ziemlich beeinflusst wurde. Eigentlich kann man ALLES mit CAMP in Verbindung setzten. Und für sich interpretieren. In alle Richtungen.

Deswegen ist es wahrscheinlich auch so schwer zu definieren…?

Genau! Ich bin bereits auf 1.000 existierende Erklärungen gestoßen und habe die MET-Ausstellung in New York besucht. Doch auch wenn man Interviews oder Berichte darüber liest, dann findet man keine klare Definition. CAMP ist für mich formlos. Deswegen sehen von CAMP beeinflusste Designs auch so unterschiedlich aus. Wenn man die daran angelehnte Herrenmode betrachtet, dann ist diese oft sehr weiblich. Und die weibliche Mode dann wieder männlich. Man mischt es miteinander. CAMP ist genderlos. Man kann CAMP in keine Schublade stecken. Das hat mich sehr inspiriert.

Damit ist CAMP gerade ein sehr kontemporäres Thema, oder?

Das würde ich schon sagen. Es ist ein Trend, der momentan überall zu sehen ist.

Wie fühlt es sich an zu wissen, dass Du an dem Kleid mitgearbeitet hast, das bei der MET-Gala die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat?

Ich habe wohl fast geweint. Es war wirklich seeeehr viel Arbeit. Und ich schätze es, dass ich schon bei den ersten Schritten mitwirken durfte. Zu sehen, wie es auf Instagram und in den Medien von Jedermann gefeiert wurde – das war wie ein Flashback, ein Rückblick auf die schlaflosen Nächte, in denen wir bis in die frühen Morgenstunden gearbeitet haben. Ich habe jedoch nur zwei Nächte gearbeitet. Vielleicht auch, weil wir insgesamt 35 Leute waren. Aus dem Design-Team haben einige aber 48 Stunden nicht geschlafen.

Wie viele Arbeitsstunden habt Ihr für das Kleid eingerechnet?

2000!

Wie viele Meter war das Kleid lang?

2 ½ Meter!

Was denkst Du, warum genau dieses Kleid so viele Schlagzeilen gemacht hat?

Ich denke, das liegt an der Größe. Der Farbe. Der Masse. Den tausend kleinen Perlen. Und den Federn, die eingestickt wurden. Das Endergebnis ist überwältigend. Erschlagend.

CAMP is a woman walking around in a dress made of three million feathers?

Ja genau! Aber natürlich auch wegen Cardi B.

Blicken wir einmal von der High Fashion auf die High Street. Kann man CAMP-Einflüsse auch bei Retailern wie ZARA finden?

Ja, gerade nach der MET-Gala. Klar, die Kleidungsstücke in den High Street Stores sind natürlich nicht zu extreme, kommerzielle Pieces. Aber, ein paar Einflüsse kann man sehen. Auch auf Social Media.

Apropos Social Media: CAMP ist ja wohl DER most ’instagrammable’ Trend schlechthin!

Total. Ich sehe zum Beispiel plötzlich überall nur noch Federn! Viele Influencer tragen Kleidungsstücke mit vielen Pailletten und natürlich Glitzer.

Zurück zu deiner persönlichen Erfahrung. Die letzte Thom Browne Kollektion spiegelt einige Karikaturen der Künstlerin Romaine Brookes wieder – was hat es damit auf sich?

Zunächst einmal: Einsichten in die Recherche und Hintergründe zur Arbeit bei Thom Browne sind leider top secret! Man darf nichts kommunizieren. Aber: Bei Romaine Brooks handelt es sich um einen historischen Charakter. Sie war in den 1920er Jahren eines der bekanntesten Mitglieder einer Gruppe von lesbischen Frauen. Und diese sahen teilweise sehr männlich gekleidet aus. Ich verbinde CAMP besonders mit ihr. Nicht nur mit ihr als Person, sondern auch ihrer Kleidung, ihren Accessoires, ihrem gesamten Erscheinungsbild.

Ziemlich rebellisch für die Zeit. Denkst Du, dass CAMP heutzutage noch genauso revolutionär ist wie in den 60er Jahren – als es noch das Sprachrohr der Ausgegrenzten oder unterdrückten Randgruppen war? Oder ist CAMP eher Mainstream?

Ich glaube CAMP bewegt immer noch etwas. Oder anders ausgedrückt, es muss immer noch etwas bewegen! Klar, es ist nicht mehr so wie in den 60ern, dass GAY-People strickt ausgeschlossen werden. Trotzdem. Es muss noch viel getan werden. Deswegen denke ich noch immer, dass CAMP revolutionär ist! Mainstream ist es nicht!

Also kein Trend, der ausschließlich in der LGBTQ+ Gemeinde zu finden ist?

Genau das soll CAMP ja eigentlich nicht sein, kategorisiert und begrenzt. Ich setzte den Trend zwar schon mit der LGBTQ+ Community in Verbindung. Aber, ich würde sagen, dass sich die CAMP-Anliegen und die der LGBTQ+ Community ergänzen. Dennoch, CAMP kann jeden betreffen – auch mich!

Viele assoziieren natürlich auch direkt Verkleiden und Drag damit?

Ja, aber so sehe ich das nicht. Auch ich könnte mich mit CAMP verwirklichen. Oder den Trend als Motivation sehen. Als Ausdrucksform. CAMP ist limitless!

Was ist mit der GODMOTHER of CAMP, Susan Sontag. Hast Du Dich auch mit ihr beschäftigt?

Ich habe mir ihre Notes durchgelesen. Und auch hier wieder die gleiche Erkenntnis erlangt: CAMP kann wirklich ALLES sein! Der Text ist inspirierend. CAMP betrifft Alles und Jeden. Ich finde bei CAMP findet sich keine klare Form. Aber, vielleicht soll es ja auch genauso sein!

Wenn ich dich richtig verstehe, dann beschreibt CAMP sozusagen eine Art Befreiung?

Definitiv!

Zum Abschluss, was würdest Du sagen, ist die wichtigste Essenz, die Du aus Deiner persönlichen CAMP Erfahrung gewonnen hast?

CAMP ist nicht nur formlos, es fordert dazu auf, auch formlos zu sein. Und formlos zu denken! Man sollte sich selbst nicht eingrenzen – außer wenn man es persönlich möchte. CAMP spornt dich dazu an, dich jeden Tag neu zu interpretieren. Das finde ich persönlich besonders interessant. Ich kleide mich zum Beispiel an einem Tag sehr weiblich oder girly und am anderen Tag möchte ich dann aber trotzdem Hosenanzüge tragen! Und maskulin wirken. CAMP hat mir das für meinen Alltag noch einmal deutlich gemacht.

 

 

Zusatz-Info für CAMP Experten:

Wer war Romaine Brooks?

Ihr Lebensstil, aber auch ihre künstlerischen Darbietungen machten sie zu einer der wohl fortschrittlichsten Frauen des 20. Jahrhunderts – Romaine Brooks. Eine Künstlerin. Eine Lesbe. Eine sensible Frau mit großartigem Charakter.

In den 1920er Jahren etablierte sich die junge Frau in der französischen Hauptstadt Paris als Malerin, wo sie ihre Portraits mit der stets grau-tristen Farbpalette zum ihrem Markenzeichen machte. Und den damals so angesagten Kubismus? – Ließ sie ganz einfach links liegen und entwickelte ihren eigenen Stil. Als Model wählte Brooks meist traurig dreinschauende Frauen, eine davon war ihre langjährige Lebensgefährtin, die ‚Amazone von Paris‘, die größte Frauenherzensbrecherin ihrer Zeit – Nathalie Barney.

Das Paar war besonders für seine feministischen Einstellungen bekannt. Man kann die 1920er jedoch nicht mit der heutigen Zeit vergleichen. Homosexualität war auch in der gehobenen Gesellschaft von Paris ein rotes Tuch. Eine Krankheit. Zu bedauern. Aber nicht für Brooks und Barney. Sie gehörten zu den wichtigsten Mitgliedern jener Pariser Salons, die Lesbischsein als die Chance auf ein freies und selbstbestimmtes Leben empfanden. Ein Leben, das heterosexuellen Frauen in einer traditionellen Ehe damals möglicherweise eher versperrt blieb. Über 100 lesbische Frauen schlossen sich diesen Salons an und förderten gegenseitigen kreativen Austausch. Einfach formuliert: Brooks und Barney gehörten zu einem Club, der von Lesben und für Lesben gemacht war und der gegenseitigen Unterstützung diente.

Aber auch allein: Brooks schwamm gegen den Strom. Sie rebellierte. Sie war homosexuell und lebte dies nicht versteckt, sondern auf der Leinwand. Noch heute beeinflussen Romaine Brooks androgyne Damen-Portraits. Die Art und Weise, wie sie ihre Modelle malte. In maskulinen Kleidern. Mit strengen Kurzhaarschnitten, Zylindern, steifen Hemdkragen und Herrenanzügen. Brooks trieb die Androgynität auf die Spitze. Tanzte auf dem schmalen Grad, der die Geschlechter anhand von Äußerlichkeiten trennt – der Mode. Und stellte somit, die von der Gesellschaft kritisch betrachtete, lesbische Selbstinszenierung in gekonnter, ironischer Distanz da. Übertrieben, rebellisch, ironisch und irgendwie komisch. ALSO TYPISCH CAMP! Brooks hinterließ uns damit eine einmalige Serie an Portraits von lesbischen, mutigen Frauen des frühen 20. Jahrhunderts.

Susan Sontag Note 9:

Camp is going against the grain of one’s sex.

Sena Isikal auf Instagram:

https://www.instagram.com/sena.isikal/?hl=de

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